Berufsbildung und Migration

«Schwierig ist der Einstieg für spätmigrierte Jugendliche»

Ein Drittel aller Jugendlichen in der Schweiz hat einen Migrationshintergrund. Mit welchen Schwierigkeiten kämpfen sie beim Einstieg in die Berufsbildung? Wie können Lehrbetriebe das Potenzial dieser Jugendlichen erschliessen? Ein Gespräch mit Ursula Scharnhorst* vom Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB.

Beginnen wir mit drei Behauptungen. Erstens: Jugendliche mit Migrationshintergrund schneiden in der Lehre überdurchschnittlich gut ab, weil sie motivierter und ehrgeiziger sind.
Es kommt darauf an, welche Gruppe wir betrachten. Bei den leistungsbesten Jugendlichen, die schon länger in der Schweiz sind oder hier geboren wurden, gibt es bezüglich Leistungsmotivation kein Unterschied zu einheimischen Jugendlichen. Anders bei Flüchtlingen: Viele Ausbildungsverantwortliche berichten von beeindruckenden Lernfortschritten. Wichtig ist, dass sie rasch Zugang zu Bildungsangeboten erhalten, sonst schwindet ihre Motivation.

Zweite Behauptung: Jugendliche mit Migrationshintergrund werden bei der Lehrstellensuche benachteiligt.
Stimmt. Aufgrund ihres Sozialstatus – soziale Herkunft, bildungsfernes Umfeld – absolvieren sie häufiger die Realschule und bringen daher schlechtere schulische Voraussetzungen mit. Die Weichen werden also früh gestellt. Zudem fehlt vielen ein Netzwerk, das ihnen bei der Lehrstellensuche Türen öffnet. Schliesslich können beim betrieblichen Auswahlverfahren auch gruppenspezifische Zuschreibungen bzw. Vorurteile sowie die soziale Herkunft ihre Chancen schmälern.

Dritte Behauptung: Eltern mit Migrationshintergrund bevorzugen für ihre Kinder den allgemeinbildenden Weg, weil sie die Berufsbildung aus ihren Herkunftsländern nicht kennen.
Dieses Phänomen zeigt sich vor allem bei Migrantinnen und Migranten der ersten Generation. Ihnen müssen wir aufzeigen, welche Chancen die Berufsbildung in der Schweiz bietet. Ab der zweiten Generation gibt es bezüglich Richtungswahl – Lehre oder Mittelschule – keine signifikanten Unterschiede mehr.

Rund ein Drittel der Jugendlichen in der Schweiz hat einen Migrationshintergrund. Wie gut gelingt es der Berufsbildung, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Je nach Gruppe unterschiedlich gut und insgesamt nicht gleich gut, wie bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Schwierig ist der Einstieg insbesondere für spätmigrierte Jugendliche und junge Erwachsene. Aber auch bei den Abschlüssen sind sie weniger erfolgreich und brauchen länger. Rund 16 Prozent haben keinen Berufs- oder Mittelschulabschluss. Bei Schweizer Jugendlichen sind es 4 Prozent. Eine besondere Herausforderung ist auch die Integration von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen.

Gibt es genügend Angebote, um die beiden genannten Gruppen zu unterstützen?
Ja. Es gibt viele Grundbildungen mit tieferen Leistungsansprüchen – insbesondere die zweijährigen Attestausbildungen. Sie ermöglichen vielen spätmigrierten Jugendlichen und Flüchtlingen, in die Berufsbildung einzusteigen. Für jene, welche diese Hürde noch nicht schaffen, bieten alle Kantone berufsvorbereitende Brückenangebote mit Schwerpunkt Integration an. Eine wichtige Einstiegshilfe ist die Vorlehre. Neu gibt es für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene die Integrationsvorlehre. Sie wird zusammen mit verschiedenen Branchenorganisationen angeboten und bereitet auf bestimmte Berufsfelder vor.

Welche Rolle fällt den Lehrbetrieben zu? Was können sie tun, damit Jugendlichen mit Migrationshintergrund der Einstieg ins Erwerbsleben gelingt?
Sie sollten offen sein und die Ausbildungsplätze nach fairen Kriterien vergeben. Das setzt eine bewusste Strategie voraus. Die Unternehmensführung muss nach innen und aussen klar signalisieren, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund willkommen sind.

Müssen die Lehrbetriebe ihre Ausbildungspraxis anpassen, wenn sie Lernende aus anderen Kulturkreisen ausbilden?
Nein, sie sollten ihre bewährte Ausbildungspraxis beibehalten. Ziel ist, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund in unsere Strukturen hineinwachsen. Klar können zuweilen kulturell bedingte Differenzen auftreten – wenn religiöse Feiertage anstehen, wenn junge Männer Frauen als Vorgesetzte nicht akzeptieren usw. Aber für solche Probleme gibt es erprobte Lösungsstrategien. In der Regel wissen die Betriebe, wie sie mit schwierigen Lernsituationen konstruktiv umgehen können. Sie dürfen dabei ruhig auf ihre Ausbildungskompetenz vertrauen. Ansonsten gibt es gute Informations- und Beratungsangebote (siehe Kasten).

Viele Branchen beklagen einen Fachkräftemangel. Ist die bessere Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund Teil der Lösung?
Bis zu einem gewissen Grad. Chancen eröffnen sich insbesondere für Branchen, deren Berufe den sprachlichen und schulischen Voraussetzungen von spätmigrierten Jugendlichen oder von Flüchtlingen entsprechen – Bau, Gastronomie, Logistik u. a. Manchmal braucht es Zeit und etwas Geduld. Aber unser Bildungssystem macht es möglich, Jugendliche dort abzuholen, wo sie sind und sie Schritt für Schritt zum Abschluss einer beruflichen Grundbildung zu führen.

Wir haben bisher über Jugendliche gesprochen. Können auch Erwachsene mit Migrationshintergrund für die Berufsbildung gewonnen werden?
Auch sie können einen Berufsabschluss erlangen und sollten sich über die damit verbundenen Chancen sowie über die möglichen Wege informieren. Wiederum können die Betriebe dabei eine wichtige Rolle übernehmen, indem sie erwachsene Migrantinnen und Migranten motivieren und durch gute Rahmenbedingungen unterstützen.

Infobox

Weitere Informationen und Hilfestellungen zum Thema «Berufsbildung und Migration» sind unter folgenden Links erhältlich:

  • Tipps für eine faire Auswahl von Lernenden Link
  • Informationen, Argumente und Statements zum Berufsabschluss für Erwachsene Link
  • Integrationsagenda Schweiz Link
  • SDBB-Merkblatt «Integration» Download
  • Ausbildungsberatung der Kantone Adressen